Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
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Die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral ist eine Anekdote von Heinrich
Böll. Er schrieb sie für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum „Tag
der Arbeit“ am 1. Mai 1963.
Inhaltsangabe
In der Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll aus dem
Jahre 1963 geht es um einen Touristen und einen Fischer, die in ein
Gespräch geraten und ihre unterschiedlichen Meinungen zur Arbeitsethik und
Lebenseinstellung austauschen.
In einem Hafen an der Westküste Europas schläft ein ärmlich gekleideter
Fischer und wird durch das Klicken des Fotoapparates eines Touristen
geweckt. Anschließend fragt der Tourist den Fischer, warum er denn nicht
draußen auf dem Meer sei und fische. Heute sei doch so ein toller Tag, um
einen guten Fang zu machen, es gebe draußen viele Fische. Da der Fischer
keine Antwort gibt, denkt sich der Tourist, dem Fischer gehe es nicht gut,
und fragt ihn nach dessen Befinden, doch der Fischer hat nichts zu
beklagen. Der Tourist hakt noch einmal nach und fragt den Fischer
abermals, warum er denn nicht hinausfahre. Nun antwortet der Fischer, er
sei schon draußen gewesen und habe so gut gefangen, dass es ihm für die
nächsten Tage noch reiche. Der Tourist entgegnet, dass der Fischer noch
zwei-, drei- oder gar viermal hinausfahren und dann ein kleines
Unternehmen aufbauen könnte, danach ein größeres Unternehmen und dieses
Wachstum schließlich immer weiter steigern könnte, bis er sogar das
Ausland mit seinem Fisch beliefern würde. Danach hätte der Fischer dann
genug verdient, um einfach am Hafen sitzen und sich ruhig entspannen zu
können. Der Fischer entgegnet gelassen, am Hafen sitzen und sich
entspannen könne er doch jetzt schon. Darauf geht der Tourist nachdenklich
und ein wenig neidisch fort.
Historischer Zusammenhang
Mitten im deutschen Wirtschaftsboom, dazu noch zum Tag
der Arbeit, provoziert Böll seine Leser durch Infragestellung ihrer neu
eroberten Werte und ihres frisch errungenen Selbstbewusstseins. Der
Tourist verkörpert zu Anfang der Erzählung den Idealtyp der Zeit: Erfolg
ermöglicht ihm Bildung und Reisen, ein gönnerhaftes Auftreten. Dass er im
Ausland Urlaub machen kann, erscheint ihm als selbst erzieltes Resultat
erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns, zu dem die sorglose „Faulenzerei“
des Fischers einen Kontrast bildet, der den Touristen von Anfang an
irritiert. Die Erzählung stellt den ärmlich gekleideten Fischer in einen
Gegensatz zu dem schicken Touristen. Aber obwohl der Reisende im Sinne des
Wirtschaftswunders zunächst die Gewinnerperspektive einzunehmen scheint
(er ist der Aktive und dadurch Dominante), wirkt er von Anfang an nervös
und unsicher gegenüber seinem äußerlich ärmlichen Gesprächspartner.
Es sind verschiedene Werte der Wirtschaftswunderzeit,
die ins Visier der böllschen Ironie geraten, nicht nur der Materialismus,
vor allem auch die hektische Betriebsamkeit, die sich Ruhe nur dann gönnt,
wenn sie durch ein arbeitserfülltes Leben als gerechtfertigt erscheint.
Die Haltung des Fischers hingegen mutet geradezu als eine Vorwegnahme der
postmaterialistischen Grundhaltung an, die sich nach dem Wirtschaftswunder
auch in den führenden Industrieländern Europas verbreitete. Dieser Haltung
zufolge arbeite der Mensch, um zu leben, und lebe nicht, um zu arbeiten.
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