Katholischer Deutscher Frauenbund Schierling

   
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
(aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie)

Die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral ist eine Anekdote von Heinrich Böll. Er schrieb sie für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai 1963.
   

Inhaltsangabe

In der Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll aus dem Jahre 1963 geht es um einen Touristen und einen Fischer, die in ein Gespräch geraten und ihre unterschiedlichen Meinungen zur Arbeitsethik und Lebenseinstellung austauschen.

In einem Hafen an der Westküste Europas schläft ein ärmlich gekleideter Fischer und wird durch das Klicken des Fotoapparates eines Touristen geweckt. Anschließend fragt der Tourist den Fischer, warum er denn nicht draußen auf dem Meer sei und fische. Heute sei doch so ein toller Tag, um einen guten Fang zu machen, es gebe draußen viele Fische. Da der Fischer keine Antwort gibt, denkt sich der Tourist, dem Fischer gehe es nicht gut, und fragt ihn nach dessen Befinden, doch der Fischer hat nichts zu beklagen. Der Tourist hakt noch einmal nach und fragt den Fischer abermals, warum er denn nicht hinausfahre. Nun antwortet der Fischer, er sei schon draußen gewesen und habe so gut gefangen, dass es ihm für die nächsten Tage noch reiche. Der Tourist entgegnet, dass der Fischer noch zwei-, drei- oder gar viermal hinausfahren und dann ein kleines Unternehmen aufbauen könnte, danach ein größeres Unternehmen und dieses Wachstum schließlich immer weiter steigern könnte, bis er sogar das Ausland mit seinem Fisch beliefern würde. Danach hätte der Fischer dann genug verdient, um einfach am Hafen sitzen und sich ruhig entspannen zu können. Der Fischer entgegnet gelassen, am Hafen sitzen und sich entspannen könne er doch jetzt schon. Darauf geht der Tourist nachdenklich und ein wenig neidisch fort.
   

Historischer Zusammenhang

Mitten im deutschen Wirtschaftsboom, dazu noch zum Tag der Arbeit, provoziert Böll seine Leser durch Infragestellung ihrer neu eroberten Werte und ihres frisch errungenen Selbstbewusstseins. Der Tourist verkörpert zu Anfang der Erzählung den Idealtyp der Zeit: Erfolg ermöglicht ihm Bildung und Reisen, ein gönnerhaftes Auftreten. Dass er im Ausland Urlaub machen kann, erscheint ihm als selbst erzieltes Resultat erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns, zu dem die sorglose „Faulenzerei“ des Fischers einen Kontrast bildet, der den Touristen von Anfang an irritiert. Die Erzählung stellt den ärmlich gekleideten Fischer in einen Gegensatz zu dem schicken Touristen. Aber obwohl der Reisende im Sinne des Wirtschaftswunders zunächst die Gewinnerperspektive einzunehmen scheint (er ist der Aktive und dadurch Dominante), wirkt er von Anfang an nervös und unsicher gegenüber seinem äußerlich ärmlichen Gesprächspartner.

Es sind verschiedene Werte der Wirtschaftswunderzeit, die ins Visier der böllschen Ironie geraten, nicht nur der Materialismus, vor allem auch die hektische Betriebsamkeit, die sich Ruhe nur dann gönnt, wenn sie durch ein arbeitserfülltes Leben als gerechtfertigt erscheint. Die Haltung des Fischers hingegen mutet geradezu als eine Vorwegnahme der postmaterialistischen Grundhaltung an, die sich nach dem Wirtschaftswunder auch in den führenden Industrieländern Europas verbreitete. Dieser Haltung zufolge arbeite der Mensch, um zu leben, und lebe nicht, um zu arbeiten.

   


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